Der Umweg über die Welt – Wie wir uns selbst im Anderen finden
Ein psychotherapeutischer Blick auf Selbsterkenntnis durch Beziehung
Wer bin ich – wirklich?
Diese Frage beschäftigt viele Menschen. Und nicht selten führt sie zur Annahme, man müsse sich nur tief genug in sich selbst zurückziehen, um zur eigenen Wahrheit zu gelangen. Doch modernes psychotherapeutisches und philosophisches Verständnis zeigen: Der direkte Weg nach innen ist oft ein Umweg – und zwar über die Welt um uns herum.
In der Gruppentherapie wird genau das erfahrbar: Selbstverständnis entsteht durch Beziehung, durch Begegnung, durch Sprache.
Selbsterkenntnis braucht andere
Der französische Philosoph Paul Ricoeur prägte das Konzept der narrativen Identität. Er sagt:
„Durch das Erzählen eines Lebens, dessen Autor ich in Bezug auf seine Existenz nicht bin, werde ich zum Co-Autor seiner Bedeutung.“
Wir machen uns selbst verständlich, indem wir unsere Geschichte erzählen – nicht im luftleeren Raum, sondern im Gespräch mit anderen. Sprache, Literatur, Gesellschaft – all das wirkt mit an dem Bild, das wir von uns selbst entwickeln.
Zwei Ebenen des Selbst: idem und ipse
- Idem – das Bleibende, unsere konstanten Eigenschaften
- Ipse – das Wandelbare, das versprochene, gelebte Selbst
Gerade in der Gruppe können wir beides erleben: Wir erkennen wiederkehrende Muster (idem) und gleichzeitig unsere Fähigkeit zur Veränderung, zur Treue zu uns selbst (ipse). Diese beiden Pole begegnen einander – vermittelt durch unsere Geschichten („Narrative“).
Ohne Sprache kein Selbstverständnis
Was wüssten wir über Liebe, Angst, Schuld oder Vergebung, wenn wir keine Worte dafür hätten? Literatur und Sprache geben unseren Gefühlen Form, lassen uns reflektieren, einordnen, verstehen. Sie machen aus bloßem Erleben bedeutungsvolles Erkennen.
„Gerade weil das echte Leben so flüchtig ist, brauchen wir die Fiktion, um es rückblickend zu ordnen.“ – Paul Ricoeur
Ich durch dich – wir durch die Welt
In der Gruppenanalyse begegnen wir uns selbst – vermittelt durch andere Menschen. Diese Dynamik spielt sich auf zwei Ebenen ab:
- Die fundamentale Matrix: Sprache, Werte, Geschichte – die kulturellen Bedingungen unserer Selbstwahrnehmung.
- Die dynamische Matrix: Konkrete Interaktionen in der Gruppe – Kommunikation, Gefühle, Beziehungsmuster.
Beides beeinflusst unser Selbstbild – bewusst und unbewusst. Und beides findet Raum in der Gruppentherapie.
Warum Gruppentherapie?
Weil sie mehr bietet als Selbstanalyse im stillen Kämmerlein. In der Gruppe spiegeln sich unsere inneren Prozesse im Verhalten der anderen. Hier wird erlebbar, was sonst oft verborgen bleibt:
- Unsere Muster
- Unsere Selbstbilder
- Unsere Geschichten
- Unsere Sehnsüchte
Die Gruppe stellt nicht nur Fragen – sie gibt auch Resonanz. Und manchmal sogar Antworten.
Fazit: Wer sich finden will, muss sich zeigen
Selbstverständnis ist kein einsames Projekt. Es entsteht im Dialog, im Gespräch, in der Reibung – aber auch in der Anerkennung.
Man erkennt sich nicht allein – sondern über den Umweg des Anderen.
Und vielleicht ist das kein Umweg, sondern genau der Weg, den wir brauchen.