Ich durch dich, wir durch die Welt – Wie Selbstverständnis im Dialog entsteht
Ein Beitrag über Identität, Selbstverstehen und gruppenanalytische Prozesse
Die Selbstwerdung ist kein Soloprojekt
Schon der französische Philosoph Paul Ricoeur unterschied zwischen zwei Formen der Identität: idem (das, was uns über die Zeit hinweg gleich sein lässt) und ipse (die sich wandelnde Selbstheit; unser Streben nach einem guten, sinnvollen Leben, das wir bewusst gestalten). Diese Spannung – zwischen Stabilität und Entwicklung – ist nur im narrativen Vollzug lösbar: in Geschichten, die wir über uns und mit anderen entwickeln. Und genau darin liegt der Schlüssel: Wir erkennen uns durch andere, in dem, was sie in uns spiegeln, in dem, was sie uns zumuten, und in dem, was sie von uns unterscheiden.
Gruppenanalyse: Der Raum für Begegnung
In der gruppenanalytischen Psychotherapie wird dieser Gedanke praktisch erfahrbar. Die Gruppe wird zum Resonanzraum, in dem Selbstobjekt-Übertragungen (z. B. das Bedürfnis, gesehen oder gespiegelt zu werden) aktiviert und bearbeitet werden können. Unterschiedliche Persönlichkeitsstile treffen aufeinander – nicht, um sich anzugleichen, sondern um einander zu ermöglichen.
Warum Selbstverständnis Umwege braucht
Die Sehnsucht, sich selbst zu verstehen, ist alt – doch der Weg dorthin führt nicht geradeaus. Es braucht die Konfrontation mit dem Anderen, mit der Welt, mit Irritationen und Widerständen. In der Gruppe kann dies behutsam geschehen – gehalten durch Struktur, therapeutische Präsenz und eine ethische Grundlage: das Streben nach einem guten Leben für und mit anderen.
Fazit
Wer sich selbst verstehen will, muss in Beziehung treten. Denn: Ich werde ich erst durch dich. Und wir werden wir durch die Welt.